Mixed Reality: Reutlingen durch die Computerbrille
ZUKUNFT - Florian Wiest leitet das Reutlinger »Zukunftslabor«. Er hat für die Stadt eine App entwickelt, die theoretisch freischaltbar wäre.
REUTLINGEN. Es wird unfassbar schnell gehen: Wir werden vor der Stadthalle stehen und durch eine Computerbrille ins Innere schauen können, werden sehen können, wie der Platz zu Gustav Werners Zeiten ausgesehen hat. Wir werden in der Mittagspause virtuell durch Venedig spazieren. Florian Wiest freut sich auf die neue Zeit, die für ihn bereits in greifbarer Nähe liegt. Als Leiter des »Zukunftslabors Create 3D« wendet er heute die Technologie an, die eines nicht fernen Tages unterm Weihnachtsbaum landet.
GEA: Herr Wiest, Sie leiten in Reutlingen das »Zukunftslabor der Firma Create 3D«. Was machen Sie da?
Florian Wiest: Primär geht es bei uns um das Thema Digitalisierung. Wir digitalisieren Produkte. Das heißt, wir bilden Produkte unserer Kunden digital nach, um sie anschließend für weitere digitale Themen nutzen zu können. Hierzu zählt die 3D Visualisierung, man spricht auch von Rendering, die virtuelle Realität, die augmented (erweiterte) Reality und die mixed Reality, aber auch die digitale Fertigung, landläufig bekannt unter dem Begriff 3D Druck. Schaut man in Richtung digitale Zukunft mit den Themen Online Marketing, Online Vertrieb, Internet der Dinge und Industrie 4.0, dann stehen wir vor der Herausforderung, viele, nahezu alle Dinge der Welt zu digitalisieren. Die Firma Google hat da bereits vor zehn Jahren mit der Erde und vielen darauf befindlichen Gebäuden angefangen.
»Wie sieht eine Stadt im Jahr 2030 aus«
Realität, die mit der Wirklichkeit vermischt wird. Wie kann man sich das vorstellen und wozu verwendet man das? Wiest: Für mich sind das momentan die spannendsten Technologien. Sie mischen die Realität mit der virtuellen Welt. Mit der kürzlich auf dem Markt erschienenen Hololens Brille von Microsoft wird die Realität mit Computergrafik angereichert. Denken Sie daran, sich in Landschaften zu bewegen, die weit weg sind. Es könnte Menschen motivieren, denen das Laufband und der Fahrradergometer im Sportstudio zu öde ist. Real renne ich auf dem Laufband im Fitnessstudio, virtuell laufe ich am Strand von Malibu. Ein anderes Beispiel: Das Fernsehen der Zukunft wird sich verändern. Wir sitzen bei »Deutschland sucht den Superstar« entweder neben Dieter Bohlen oder stehen wahlweise direkt auf der Bühne. Alles in 3D und alles fühlt sich so an, als wären wir real dort. Die Branche Fernsehen wird mit der dritten Dimension wieder attraktiver. Das Thema Holoportation wird dafür sorgen, dass wir uns viel seltener »real« treffen müssen. Wir treffen uns virtuell in einem gemeinsamen Raum in 3D. Stellen Sie sich vor, Sie sind auf Geschäftsreise – ihre kleine Tochter ist zu Hause. Früher haben Sie telefoniert, heute sehen sie sich per Videotelefonie oder skypen miteinander. In Zukunft treffen sie sich virtuell in 3D. Theoretisch können sie gemeinsam mit Ihrer kleinen Tochter spielen.
Die Stadt Reutlingen zählt unter anderem zu Ihren Kunden. In welcher Form?
Wiest: Die Stadt Reutlingen hat uns vor zwei Jahren im Rahmen des Projekts Zukunftsstadt ausgewählt und beauftragt, zunächst ein Konzept und anschließend eine App zu entwickeln, welche die Möglichkeiten eines Stadtmodells 2030 aufzeigt. Bei dem Projekt handelt es sich um einen Wettbewerb, ausgeschrieben vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, bei dem die Stadt gemeinsam mit der Firma Bosch, dem Fraunhofer IAO und uns teilnimmt. Unsere Aufgabe war die Entwicklung und Programmierung einer App, in der es möglich ist, zukünftig für die Menschen einer Stadt relevante Inhalte authentisiert der Realität zu überlagern. Die Frage an uns zunächst war: Wie sieht eine Stadt im Jahr 2030 aus? Wir haben hier die Themen Mobilität und Verkehr, Einzelhandel, Stadtplanung, Stadtmarketing, aber auch die Implementierung von historischen Inhalten miteinbezogen. Alle virtuelle Inhalte haben wir mittels augmented Reality in die Realität geholt.
Wie funktioniert die digitalisierte Stadt ?
Wiest: Wenn Sie vor der Stadthalle stehen und ihr Smartphone oder Tablet auf die Stadthalle richten, erscheinen gewünschte Informationen zur Stadthalle. Vom aktuellen Veranstaltungskalender mit Buchungsportal bis hin zur virtuellen Projektion der Veranstaltung, die aktuell in der Halle stattfindet. Sie ist sichtbar auf der Außenhülle in Form eines Videos. Bewegen Sie dann ihr Smartphone oder Tablet in Richtung Stadtzentrum, werden Ihnen Informationen zu Gastronomie, historischen Orten, Parkplätzen, Angeboten des Einzelhandels eingeblendet – alles echtzeitverknüpft. Wo ist die nächste Haltestelle, wie weit ist sie entfernt? Grundsätzlich funktioniert die App im gesamten Stadtgebiet. Der Bürgerpark eignet sich für unsere App als Hotspot, weil wir hier sehr viele Themen abbilden konnten. So konnten wir hier auch historische Inhalte in Form einer Zeitreise abbilden; wir haben das Bruderhaus Fabrikgelände der 50er Jahre in 3D visualisiert. Wenn Sie sich um die eigene Achse drehen, sehen sie, wie die Umgebung vor 50 Jahren ausgesehen hat. Wir haben dazu alle alten Fotos vom Stadtarchiv miteinbezogen und die Situation digital nachmodelliert. Aber auch Zukunftsszenarien haben wir so abgebildet. Das Projekt hat ziemlich genau vor einem Jahr stattgefunden – zum damaligen Zeitpunkt war das neue Gebäude der GWG Wohnungsgesellschaft noch gar nicht vorhanden.
Ist das für den Normalbürger irgendwann nutzbar?
Wiest: Bei der Applikation handelt es sich um einen funktionsfähigen Prototypen, den wir primär für Smartphones und Tablets entwickelt haben. Man könnte die App theoretisch aufs Smartphone laden. Der Wettbewerb »Zukunftsstadt« ist allerdings noch nicht beendet. Wir sind mit weiteren neun Städten in der engeren Auswahl. Dieses Jahr finalisieren wir das Thema. Das Unternehmen Bosch und das Fraunhofer Institut sind wieder mit im Boot. Sie sorgen für die Sensorik und die Echtzeitdaten, von der aktuellen Parkplatzbelegung bis hin zu den aktuellen Füllständen der Mülleimer. Damit erkennt die Müllabfuhr, wie voll die Mülleimer sind. Die Stadt hat uns gebeten, eine offene Schnittstelle zu schaffen, damit unter anderem historische und geografische Themen eingepflegt werden können. Das machen wir jetzt schon mit dem Veranstaltungskalender der Stadthalle. Sollte Reutlingen gewinnen, wäre unser Modell Vorbild für weitere Städte.
Sie sind für Unternehmen wie Elring Klinger, Bosch, Fraunhofer und andere tätig. Wie sieht Ihre Dienstleistung aus?
Wiest: Der Bedarf unserer Kunden geht mehr und mehr in Richtung Digitalisierung ihrer Produkte, die Programmierung von Tools für das digitale Marketing, den digitalen Vertrieb bis hin zur digitalen Fertigung. Wir liefern die High End Daten sowie die zugehörige Programmierung. In Zukunft werden wir noch mehr virtuelle Inhalte ins reale Leben bringen, ohne die Hürde, diese am Rechner, auf einem Server oder im Internet suchen zu müssen. Hinzu kommt die Vernetzung von Objekten und Prozessen, man spricht hier vom Internet der Dinge, die Industrie spricht von Industrie 4.0. Jedes Produkt, jede Maschine kann mir in Zukunft sagen, was es ist, was es gerade macht und wenn etwas nicht funktioniert, was nicht funktioniert und wie der Benutzer das beheben kann. Ab dem Moment kann das rein theoretisch jeder reparieren, weil die Fachkenntnisse von der Maschine an den Betrachter kommuniziert werden. Diese 3D Anwendungen können Sie dann in mehrerlei Kontext verwenden – sei es als Produktvorstellungs Tool auf Messen, als Vertriebstool oder als Lehr und oder Service Tool. Für Maschinenbauer digitalisieren wir Maschinen, für die Automotive Branche Fahrzeugkomponenten, wie beispielsweise Motoren. Für die Firma Elring haben wir hier kürzlich eine Virtual Reality Anwendung dieser Art umgesetzt. Eine virtuelle Werkstatt, in der Fahrzeuge und Motoren mit Elring Produkten virtuell ausgestattet werden können. Haben Sie die Anwendung mehrmals durchgeführt, können Sie mir genau sagen, wo eine Zylinderkopfdichtung im Motor platziert ist.
Welche Möglichkeiten ergeben sich für den Endverbraucher?
Wiest: Betrachten wir die virtuelle Realität – im Moment kommt das Thema noch sehr spielerisch daher. Das wird sich unter Umständen bis auf das Thema »Mobilität« des Einzelnen auswirken. Seine Mobilität wird sich verändern, weil irgendwann jeder die Computerbrille zu Hause hat. Sobald wir die Brillen flächendeckend zu Hause haben, können wir virtuell überall hin gehen. Wir können mit der Brille an jeden beliebigen Ort gehen. Das Thema wird viel größer werden, als wir uns das vorstellen können. So wie das Fernsehen ursprünglich »die Welt da draußen« ins Haus gebracht hat, bringt uns die neue Technik selbst virtuell nach draußen. Sie können an jeden Ort der Welt gehen. Nicht nur den Verkehr und die Mobilität, den ganzen Tourismus kann die virtuelle Realität aus meiner Sicht verändern. Wenn Sie heute beispielsweise eine Bergwanderung in den Alpen machen und diese währenddessen digital in 3D aufzeichnen, was heute schon möglich ist, können Sie dieselbe Wanderung ein Jahr später dreidimensional wiederholen.
Wenn ich mir die Welt ins Wohnzimmer holen kann, muss ich nicht mehr selbst verreisen. Ein Verlust? Wiest: Obacht, ich hol mir die Welt nicht ins Wohnzimmer, das wäre dem alten Modell Fernsehen zu ähnlich. Mit der virtualen Realität habe ich die Möglichkeit, den Eindruck zu schaffen, dass ich draußen bin. Ich verlasse also gefühlt das Wohnzimmer. Einen Verlust sehe ich hier nicht. Vielmehr einen uns im positiven Sinn verändernden Zusatznutzen. Sie setzen sich die 3D Brille auf und schießen sich (wir sprechen hier von Teleportation) per Knopfdruck an einen beliebigen anderen Ort. Sie können in der Mittagspause schnell auf den oben besagten Berg oder nach Venedig reisen. Es gibt zusätzlich die Technologie, mit der Sie den Tastsinn ansprechen können. Und das ist erst der Anfang. Irgendwann, das ist absehbar, wird die Technologie in ihre normale Brille eingebaut.
»Kaufen wird noch viel mehr zum Tauschen«
Ein Blick in die Zukunft zum Thema Einkaufen und Konsum: Wie wird sich die Stadt verändern?
Wiest: Was sich im Moment mit unserem Nutzungsverhalten beim Thema Automobil zusehens verändert, wird auch mit anderen Produkten geschehen. Wir werden viel mehr nutzen als kaufen. Die Vernetzung unserer Dinge wird dies alles vorantreiben. Kaufen wird noch viel mehr zum Tauschen, indem ich mit einem Klick ein altes Produkt wieder zum Hersteller zurückgebe oder weiter an einen anderen Verbraucher. Die Vollvernetzung durch Digitalisierung ist der Schlüssel dazu.
Vieles davon läuft nicht in Deutschland, sondern anderswo. Woran fehlt's?
Wiest: Am fehlenden Mut. Vor 150 Jahren hatten wir in Baden Württemberg sehr viele »Macher«. Danach kamen die »Verwalter«. Und jetzt haben wir vielerorts die »Festhaltekultur«, das Festhalten an in die Jahre gekommene Produkte, Prozesse und Strukturen. Was wir brauchen, sind wieder »Macher«, heute allerdings im digitalen Bereich. Vielerorts gibt es in den Schulen einen einzigen Computerraum. In den USA war vor 15 Jahren schon jeder Raum mit Computern ausgestattet. Dass von dort Facebook, Google, Amazon und Co. kommen, ist eine logische Konsequenz. Das Bewusstsein der digitalen Chancen und die des digitalen Denkens muss in unsere Kultur. Wenn wir die Themen nicht in die Schulen bringen, wird es eine andere Nation machen.
Zur Person
Florian Wiest, 36, geboren in Horb a.N., hat Maschinenbau studiert und leitet seit dem Jahr 2000 das »Zukunftslabor Create« in Reutlingen und Albstadt. Er beschäftigt 15 Mitarbeiter. Das Durchschnittsalter der Belegschaft liegt bei 23 Jahren. (co)